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Die Furcht vor dem Virus versetzt Gesellschaft und Wirtschaft in eine Schockstarre. Damit die Corona-Pandemie nicht in einen schmerzhaften Niedergang führt, sondern als gemeinsam gemeisterte Herausforderung in Erinnerung bleibt, sollte der Bundesrat jetzt nicht übervorsichtig agieren.

Ausserordentliche Gefahren erfordern ausserordentliche Massnahmen – ganz besonders, wenn es um Leben und Tod geht und vieles unsicher ist. Lichtet sich der Nebel, muss es aber möglich sein, diese Massnahmen zu korrigieren. Damit das Gesundheitssystem nicht durch eine exponentiell steigende Zahl von Corona-Patienten überfordert wird und Menschen sterben, die sonst hätten gerettet werden können, sind in der Schweiz per Notrecht Einschränkungen verordnet worden, die in Friedenszeiten ihresgleichen suchen. Sie scheinen zu wirken. Die Lage hat sich stabilisiert, die Zahl der neu ernsthaft Erkrankten nimmt nicht mehr stark zu. In manchen Spitälern sind die für Corona-Patienten reservierten Stationen sogar fast leer. Ganze Krankenhausabteilungen leisten Kurzarbeit, eingezogenes Militär langweilt sich.

Zum Glück ist das so und ist es bisher nicht so schlimm wie befürchtet gekommen. Disziplin und Solidarität haben geradezu österlich funktioniert. Der Bundesrat hat deshalb diese Woche nicht nur seine Sorge um die Gesundheit, sondern auch seinen Willen signalisiert, Ende April mit vorsichtigen Lockerungen zu beginnen. Dabei sollte er sich allerdings nicht nur auf die Zahl der Corona-Verstorbenen fixieren. Genauso wie ein lebensverlängerndes Medikament nicht jeden Preis rechtfertigt, sollte auch die Lebensverlängerung aller Corona-Patienten ein zwar wichtiges, aber nicht das einzig bestimmende Ziel sein. Es gilt, eine Balance zu finden zwischen optimaler medizinischer Hilfe und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schäden. Der Bund schätzt den Produktionsausfall durch den Teilstillstand der Wirtschaft derzeit auf etwa 25 Prozent, was direkte Kosten von ungefähr 15 Milliarden Franken pro Monat impliziert. Hinter diesen nackten Zahlen stecken Kurzarbeitsanträge für fast ein Drittel aller Erwerbstätigen in der Schweiz. Arbeitgeber und Beschäftigte haben Existenzängste, nicht nur in geschlossenen Coiffeursalons und Restaurants, sondern in weiten Teilen der Firmenlandschaft. Es drohen eine weltweite Wirtschaftskrise und ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Aus dem «U» kein «L» machen

Damit dies vermieden wird und die Corona-Pandemie gleichwohl medizinisch unter Kontrolle bleibt, braucht es jetzt eine kluge Ausstiegsstrategie, mit deren Hilfe die stillgelegten Teile der Wirtschaft in vernünftiger Zeit wieder aktiviert werden können. Die grosse Hoffnung heisst dabei «V», also ein V-förmiger Verlauf der Wirtschaftsentwicklung. In früheren Naturkatastrophen folgten auf den radikalen Einbruch der Wirtschaftstätigkeit im Notregime nicht Stillstand oder Stagnation, sondern eine rasche Erholung, teilweise sogar mit Aufholeffekten: Der Garten wird bestellt, die Städtereise nachgeholt, im Restaurant der Neubeginn gefeiert. Voraussetzung ist allerdings, dass dies innert nützlicher Frist geschieht. Und hier streiten sich die Epidemiologen.

Unklar ist, ob es in unseren freiheitlichen Gesellschaften gelingen kann, ein Virus auszurotten oder zumindest die Zahl der Angesteckten dauerhaft sehr gering zu halten, wie dies die asiatischen Länder und offenbar auch der Bundesrat anstreben. Die alternative Strategie besteht darin, ähnlich wie bei einer Grippe hinzunehmen, dass ein grösserer Bevölkerungsanteil irgendwann angesteckt wird, aber dies so hinauszuzögern, dass das Gesundheitswesen damit umgehen kann und das Virus möglichst von denjenigen Bevölkerungsteilen ferngehalten wird, für die eine Ansteckung mit grösserer Wahrscheinlichkeit tödlich enden könnte.

So oder so darf der Notstand nicht zu einem Marathon mit rigorosen Einschränkungen bis zum totalen Zusammenbruch werden. Aber auch ein unvermittelter Abbruch der Bemühungen wäre nicht sinnvoll, würde er doch das Erreichte zunichtemachen. Die Herausforderung besteht jetzt darin, dafür zu sorgen, dass aus dem «V» bloss ein «U», also ein U-förmiger Verlauf der Wirtschaftsentwicklung, und nicht ein «W» wiederholter Krisen wird – und schon gar nicht ein «L», bei dem Wirtschaft und Gesellschaft, vom Marathon erschöpft, in eine tiefe Rezession geraten, aus der sie nicht mehr herausfinden. Damit dies gelingt, darf man nicht mehr lange so weitermachen wie bisher. Um die Kosten dieser Epidemie einigermassen in Grenzen zu halten, sollte der Bundesrat den Mut haben, die umfassenden Einschränkungen nach plausiblen Kriterien schrittweise, aber mutig zu lockern und durch zielgenauere Massnahmen zu ersetzen. Damit könnte er auch international ein wichtiges Zeichen setzen.

Gruppenspezifische Massnahmen

Medizinisch wäre dabei erstens schon viel gewonnen, wenn die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems so angepasst würde, dass Spitäler mit einem Aufflackern der Ansteckungen umgehen können, ohne die anderen Behandlungen einstellen zu müssen und in Kapazitätsengpässe zu geraten. Das ist viel kostengünstiger, als wenn man die Gesellschaft und die Wirtschaft über Monate unter Arrest hält. Zweitens muss die Zahl der Ansteckungen in Grenzen gehalten werden; ein Infizierter sollte möglichst nicht mehr als einen weiteren Menschen anstecken. Menschenansammlungen meiden, Distanz wahren, überall sorgsamere Hygiene pflegen und wohl auch vermehrt Schutzmasken tragen sind viel weniger schmerzhafte Konzessionen an ein Leben mit Corona als der soziale und wirtschaftliche Stillstand. Und natürlich müssen Infizierte künftig besser und frühzeitiger durch Tests erfasst, isoliert und ihre engen Kontakte in Quarantäne gesetzt werden.

Drittens wäre vielen geholfen, wenn die Einschränkungen stärker an die spezifische Bedrohung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und an die tatsächliche regionale Lage angepasst würden. Für Kinder scheint Covid-19 kaum gefährlich zu sein. Sie sollten bald wieder die Schulen besuchen und sich freier bewegen dürfen. Wer den Corona-Erreger bereits bewusst oder unbewusst abgewehrt hat und dagegen mit grösster Wahrscheinlichkeit immun ist, sollte ebenfalls wieder freier arbeiten und leben können. Dazu braucht es allerdings breit verfügbare Antikörpertests. Und auch die medizinisch gesehen nicht besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen, die noch nicht immun sind, sollten bald wieder stärker selbst entscheiden dürfen, wie sehr sie sich einem Restrisiko aussetzen wollen. Dafür muss den Risikogruppen geholfen werden, sich speziell zu schützen. In einer freiheitlichen Gesellschaft sollte dabei weitgehend auf Eigenverantwortung und Vernunft abgestellt werden.

Wirtschaftlich muss eine kluge Ausstiegsstrategie darauf ausgerichtet sein, möglichst viele Menschen möglichst schnell wieder richtig arbeiten und mehr konsumieren zu lassen. Die Behörden haben sehr vieles zugesperrt, damit es die Menschen nicht in die Innenstädte zieht und es nirgends zu Menschenansammlungen kommt. Doch halten sich die Konsumenten an die neuen Vorsichtsmassnahmen, sollte es ihnen auch bald wieder erlaubt sein, mit zwei Metern Abstand, regelmässiger Desinfektion und allenfalls dem Nutzen von Gesichtsmasken Blumen oder Gartenpflanzen zu kaufen, Kleider, Haushalts- oder Elektrogeräte zu erstehen, zum Arzt zur Kontrolle zu gehen und Golf oder Tennis zu spielen. Ja, sogar Restaurantbesuche könnten so gestaltet werden, dass kleine Gruppen unter sich und stärker vor einer Ansteckung geschützt bleiben.

Mutige Versuche, notwendige Korrekturen

Da vieles unsicher ist, hat der Bundesrat sicher recht, wenn er auf einen Ausstieg in Etappen und mit einem Ansatz von Versuch und Korrektur setzt. Wirtschaftliche Leitlinien für die Lockerung sollten die Wertschöpfung und der Beschäftigungseffekt verschiedener wieder zuzulassender Tätigkeiten sein. Weil aber die Kosten des Stillstands so enorm hoch sind und es zu vermeiden gilt, dass wir vor lauter Notstandsmarathon in ein «L»-Szenario fallen, dürfen die Behörden auch nicht der Versuchung erliegen, im Zweifelsfall immer restriktiv zu entscheiden. Ideen für einen effizienteren Ausstieg sollten genutzt und ausprobiert werden. Erweist es sich als notwendig, sind Korrekturen möglich. Gefragt sind Kreativität, Flexibilität und auch etwas Mut zu unkonventionellen Umsetzungen.

Wichtig ist nicht zuletzt auch, den längerfristigen Schaden der Krisenmassnahmen möglichst klein zu halten. Der gegenwärtige Notstand ist geprägt von nationaler und gar regionaler Abschottung, eigenmächtig handelnden Exekutiven, einer enormen Zunahme der zentralstaatlichen Versorgung, von gewerkschaftlichen Interventionen in Firmen und dem Erhalt bestehender Wirtschaftsstrukturen mit öffentlichen Mitteln sowie von drohender Überschuldung. So gerechtfertigt das in der Not sein mag, mittelfristig zerstört es die Wurzeln des Schweizer Wohlstands.

Zu hoffen ist, dass uns diese schwere Epidemie in ein, zwei Jahren als eine Herausforderung in Erinnerung geblieben sein wird, die wir mit viel solidarischem Gemeinsinn und einer pragmatischen Krisenpolitik erstaunlich schnell und erfolgreich überwunden haben. Schlimm wäre, wenn sie dereinst als eine von übertriebener Furcht geprägte Zäsur empfunden würde, die in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Niedergang führte. Damit dies nicht geschieht, muss uns nun eine geschickte Rückkehr zu einem einigermassen normalen Leben mit dem Coronavirus gelingen. Je schneller und überzeugender wir das anpacken, umso besser.

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