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Der neue Nationalrat bricht gleich zwei Jugendrekorde. Einige fürchten deshalb den Verlust von Fachwissen, andere hoffen auf frische Ideen.

Ruth Humbel, CVP-Politikerin aus dem Kanton Aargau, steht vor einem unfreiwilligen Aufstieg. Im Dezember, wenn der neu gewählte Nationalrat erstmals zusammentritt, könnte Humbel dessen Alterspräsidentin werden. «Fast ein Schock» sei es gewesen, dies zu erfahren, bekennt Humbel. In der Tat entspricht ihr Profil – 62 Jahre alt, seit 16 Jahren im Rat – nicht der landläufigen Vorstellung eines «Polit-Sauriers».

Doch die Nationalratswahlen dieses Jahres waren in demografischer Hinsicht ausser­gewöhnlich. Es resultierte ein doppelter Jugendrekord: 36 Gewählte sind zwischen 30 und 39 Jahre alt, 7 Mitglieder gar jünger als 30 Jahre. In der Auswertung des Bundesamts für Statistik, die bis zu den Wahlen 1971 zurückreicht, sind dies für beide Alterskategorien die höchsten Werte. Sie sind zusammen­gerechnet dreimal so hoch wie beispielsweise 1999, als die SVP stärkste Kraft wurde. Auch das Durchschnittsalter ist mit 48,8 Jahren so tief wie nie zuvor in der ausgewerteten Periode.

«Das Langzeitgedächtnis droht abhandenzukommen.»

Ruth Humbel (62), CVP-Nationalrätin

Und zum ersten Mal seit 1983 – weiter reichen die verfügbaren Statistiken nicht zurück – wurde kein Nationalrat mit 20 oder mehr Jahren Dienstzeit gewählt. Länger als Ruth Humbel ist nur die Baselbieter Grüne Maya Graf im Amt, doch auch bei ihr sind es weniger als 20, nämlich 18 Jahre. Sollte Graf am 24. November die Wahl in den Ständerat gelingen, ginge der Titel der Alterspräsidentin auf Humbel über.

Einarbeiten in Dossiers

Bei den Gewählten nimmt man die neue Jugendlichkeit mit gewisser Sorge zur Kenntnis. Der demografische Wandel kam nicht zuletzt durch eine ganze Reihe von Abwahlen lang gedienter Parlamentarier zustande. «Aus Sicht der Demokratie ist eine hohe Wechselquote im Parlament zwar interessant, weil neue Themen Aufschwung erhalten. Doch es geht auch viel Fachwissen verloren», sagt die Urner CVP-Politikerin Heidi Z’graggen. Sie hat in ihrer Dissertation über die Professionalisierung von Parlamenten geforscht – und sie wird im Dezember selber als neu gewählte CVP-Ständerätin ins Bundeshaus einziehen. Sie rechnet mit einer längeren Phase, bis sie sich in die ihr zugewiesenen Dossiers eingearbeitet hat.

Wie sich ein Verlust von Fachwissen auswirken kann, hat Ruth Humbel bereits erfahren müssen. Die Sozial- und Gesundheitskommission, in der Humbel seit vielen Jahren politisiert, wurde wegen Rücktritten schon ­Anfang der letzten Legislatur spürbar umgekrempelt.

Der SVP etwa gelang es nach Ansicht vieler Beobachter bis heute nicht, den Abgang ihrer sozialpolitischen Koryphäe Toni Bortoluzzi zu kompensieren. «Das Langzeitgedächtnis droht abhandenzukommen», konstatiert Humbel. «Da kommen neue Mitglieder mit ihren idealistischen Vorstellungen, wie das Gesundheitssystem zu retten wäre. Und es gibt immer weniger Erfahrene, die darauf hinweisen können, dass die vorgeschlagenen Modelle schon vor Jahren geprüft und für untauglich befunden wurden.»

«Unbelasteter und frischer»

Der Zürcher Freisinnige Andri Silberschmidt, mit seinen 25 Jahren der jüngste Wahlgewinner, beurteilt die Lage positiver. «Neue Leute bringen neue Ideen und innovative Ansätze», sagt Silberschmidt. «Alteingesessene, die ein Dossier schon dreimal durchgeackert haben, sind oft festgefahren in ihren Ansichten.» Einerseits könnten sie von ihrer Erfahrung profitieren, andererseits würden sie die Lust an der Diskussion verlieren. «Junge ­gehen unbelasteter und frischer an das Problem heran.»

Unbestreitbar ist, dass das Resultat vom 20. Oktober den hohen Politisierungsgrad der Jugend im «Klimawahljahr» widerspiegelt. Neben der politischen Grosswetterlage macht Heidi Z’graggen aber auch strukturelle Gründe für Jugendtrend und frühere Rücktritte aus.

«Wer schon zwischen 20 und 30 ins Parlament gewählt wird, richtet sich oft voll auf die Politik ein.

Andri Silberschmidt (25), FDP-Nationalrat

Das Parlament habe sich in den letzten Jahren immer mehr professionalisiert. In der internationalen Tendenz führe das zwar eher zu längeren Amtszeiten. In der Schweiz habe es aber womöglich zur Folge, «dass ein Vollzeit-Parlamentarier nach ein paar Legislaturen als Karriereschritt ein neues politisches Amt anstrebt» – beispielsweise Ständerat oder ein Vollzeit-Exekutivamt.

Gespannt auf Nationalrat

Dies sieht auch Silberschmidt kritisch. «Wer schon zwischen 20 und 30 ins Parlament gewählt wird, richtet sich oft voll auf die Politik ein. Und 15 Jahre später merken die Leute auf ­einmal, dass ihnen die Erfahrung fehlt, um in die Privatwirtschaft zu wechseln.» Selber will Silberschmidt, von Beruf Gastrounternehmer, die Mutation zum Vollzeitpolitiker unbedingt vermeiden.

Vorerst stehen der Schweiz nun vier Jahre Erfahrung mit einer politisch und demografisch neuartig komponierten Legis­lative bevor. Für Ruth Humbel wird es die letzte Legislatur sein: Sie sei teilweise schon jetzt als «Sesselkleberin» apostrophiert worden. Wie der neue Nationalrat, der jüngste und unerfahrenste seit Jahrzehnten, arbeiten wird, «darauf bin ich gespannt», so Humbel.

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