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Den Welthunger stillen

Was, wenn Kulturfleisch die Schokolade als Schweizer Exportschlager ablösen würde? Ein Blick in eine mögliche Zukunft unserer Ernährung.

erschien am 11. April 2023 als Kolumne «Silberschmidts Utopien für Realisten» im Tagesanzeiger

Stellen wir uns vor, wir laufen in 30 Jahren in ein Lebensmittelgeschäft und wollen Fleisch für die Woche einkaufen. Für den sonntäglichen Besuch der Eltern entscheiden wir uns für einen saftigen Rindsbraten aus der Region. Für den kleinen Hunger am Abend kaufen wir Hamburger aus Kulturfleisch und für das Znünibrötli einen Aufstrich aus kultiviertem Poulet. Heute sind Ihnen diese Gedanken noch fremd, oder Sie haben wahrscheinlich noch nie von Kulturfleisch gehört, doch die Zeiten werden sich ändern. 

Laut aktuellen Prognosen wird in 30 Jahren die Weltbevölkerung auf über 10 Milliarden Menschen angestiegen sein, über 2 Milliarden mehr als heute. Der höhere Wohlstand führt gemäss Experten dazu, dass die Nachfrage nach Fleisch um 60 Prozent ansteigen wird.

Wie wird die Landwirtschaft dannzumal aussehen, wer kann überhaupt so viel Nahrungsmittel für Mensch und Tier produzieren, und welche Rolle spielt dabei die Schweiz?

Im Jahr 2050 werden die heutigen Kapazitäten der Landwirtschaft bei weitem nicht ausreichen, um unser auf tierischen Nahrungsmitteln basierendes Essverhalten zu decken und den Hunger aller Menschen zu stillen. Es werden sich drei Trends manifestieren: Eine hochwertige, regional verankerte und CO₂-neutrale Landwirtschaft produziert für die lokale Bevölkerung hochwertige Produkte, die auch ihren Preis haben. Die industrielle Fleischwirtschaft wird weiter zunehmen und durch einen vermehrten Einsatz von pflanzlichen und alternativen Proteinen ergänzt werden; Stichwort «planted meat/chicken» und Insekten. Zuletzt – und das ist die grosse Neuerung – werden wir in 30 Jahren in grossem Stil sogenanntes Kulturfleisch herstellen.

Kulturfleisch ist eine Abkürzung für Fleisch, das aus Zellkulturen kultiviert wurde. Seit einigen Jahren erproben erst Wissenschaftler und nun auch namhafte Firmen eine neuartige Methode der Fleischproduktion. Anstelle der Zucht von Kälbern und Schweinen mit den bekannten Folgen für das Tier (Schlachtung) und die Umwelt (ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen werden durch das globale Lebensmittelsystem verursacht, hoher Verschleiss von Land und Wasser) wird das Fleisch im Labor hergestellt. Im Gegensatz zu pflanzlichem Fleischersatz handelt es sich hier aber um «echtes» Fleisch. Einfach gesagt, funktioniert die Herstellung wie folgt: Einem Tier werden Zellen entnommen, die in einem Labor durch natürliche Zutaten angereichert werden. Dieses Vorgehen lässt das Fleisch «wachsen». Es findet keine Genmanipulation statt.

Der grosse Vorteil von Kulturfleisch ist, dass es industriell skalierbar ist, ohne einen grossen negativen Einfluss auf das Tierwohl oder das Klima zu haben. Das heisst, man kann grosse Mengen produzieren. Es ist keine Konkurrenz zur Landwirtschaft anno 2023, weil der zunehmende Bedarf an tierischen Nahrungsmitteln ohnehin nicht allein durch die Landwirtschaft gedeckt werden kann.

Kulturfleisch ist die sinnvolle Ergänzung zur herkömmlichen Landwirtschaft und bietet der Schweiz unglaubliche Chancen. Als stolzes Land der vielen Innovationen, der weltweit besten Hochschulen und der Heimat vieler relevanter Grossfirmen bringen wir alle Voraussetzungen mit, um im Jahr 2050 die Exportnation für Kulturfleisch zu sein. 

Was braucht es dazu? Nicht viel. Es müssen keine Gesetze angepasst werden. Denn Kulturfleisch gilt als «novel food», was bedeutet, dass einzig eine Zulassung durch den Bund notwendig ist.

Die Produktion von Kulturfleisch kommt ohne Antibiotika aus, ein weiterer ganz gewichtiger Vorteil. Das Ziel ist somit, dass man den gleichen Genuss wie bei Schlachtfleisch erzielt, ohne aber die negativen Konsequenzen für die Gesundheit wie beispielsweise eine Antibiotikaresistenz zu verursachen.

Es muss der Wirtschaft und der Wissenschaft also der Nachweis gelingen, dass der Verzehr von Kulturfleisch für den Menschen unbedenklich ist. Ersten Start-ups in Singapur und den USA haben von den Behörden schon eine Bewilligung für die Produktion erhalten.


Die Kulturfleischbranche ist noch jung. Sie hat laut Schätzungen von McKinsey aber das Potenzial, im Jahr 2050 knapp 10 Millionen Jobs auf der Welt zu schaffen. Wieso sollen nicht ein Teil dieser Jobs und die grossen Investitionen in die Forschung und Entwicklung in der Schweiz sein? 

Die Exporte von Schokolade stagnieren in den letzten 15 Jahren und betragen wertmässig eine Milliarde Franken. Als innovatives Land sollten wir uns somit Gedanken machen, was der nächste Exportschlager sein könnte.  

Das mag alles noch sehr vage und futuristisch klingen. Auch mag man daran zweifeln, ob das Kulturfleisch am Ende auch gut schmeckt. Aber wer hätte vor dreissig Jahren gedacht, dass dereinst ein Latte macchiato mit Hafermilch weltweit ein Trendgetränk sein wird?

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